Premierenkritik: Verdis „Simon Boccanegra“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe, 20.1.18 – intensiv und eindringlich

Im Musiktheater gilt die alte Wahrheit: Es ist nicht vorbei, bevor nicht die Dicke gesungen hat oder mindestens eine der Titelpartien einen langsamen, qualvollen Tod gestorben ist. Auch in Verdis Oper „Simon Boccanegra“, die am 20. Januar 2018 am Badischen Staatstheater Karlsruhe A-Premiere feierte, macht das Unvermeidliche seinem Namen alle Ehre. (Achtung: Spoiler)

Der Namensgeber der Oper siecht schließlich vergiftet dahin. Dabei hat er als einer der wenigen im Stück meist die besten Absichten: die verfeindeten Parteien zu einen, die vertrackte Familiengeschichte in Ordnung zu bringen, das eigene Geltungsbedürfnis zum Wohle aller zurückzustellen … Sein auch nicht ganz unbeleckter Nachfolger steht bei seinem Dahinscheiden schon in den Startlöchern und wird sogar von ihm selbst benannt.

Der König ist tot. Lang lebe der König. 

Pressebild Simon Boccanegra (Falk von Traubenberg / Badisches Staatstheater)

Die nächste Generation … doch alles bleibt beim Alten.

Als der Vorhang fällt, bleibt allerdings ein anderes Schreckensbild als der feige Mord an Simon Boccanegra im Gedächtnis: Die Intriganten, die den Dogen von Genua schließlich wortwörtlich zu Fall gebracht haben, scharwenzeln bereits um den neuen Machtinhaber herum. Auch ihn wollen sie mutmaßlich zu ihren eigenen Gunsten als Marionette lenken und ggf. absägen, wenn er es nicht bringt. Der König ist tot. Lang lebe der König. Und das Spiel geht weiter. Ego- und Eierschaukelei, die neben Populismus wider die Vernunft auch im echten Politzirkus an der Tagesordnung sein dürfte.

Kluge Ausdeutung des politischen wie menschlichen Zündstoffs in „Simon Boccanegra“

„Die Frage des ganzen Abends ist ja: Wie verändert Macht Menschen? Was macht das charakterlich aus ihnen?“, erklärt Regisseur David Herrmann in einem Interview seine Beweggründe. Denn natürlich ist „Simon Boccanegra“ eine zugleich politische wie höchst menschliche Oper, und wird von ihm entsprechend inszeniert. Der Regisseur, der schon Berlioz‘ „Les Troyens“ und Wagners „Das Rheingold“ in Karlsruhe bildgewaltig und klug ausdeutete, macht bei Verdi genau das Gleiche und sorgt damit einmal mehr für Gesprächsstoff.

Pressebild Simon Boccanegra (Falk von Traubenberg / Badisches Staatstheater)

„Wie können wir das Bisherige noch toppen?“ – „Wie wär’s mit nem schicken Typ in Rüstung und ner Marienfigur?“ – „Oh ja!“ Ks. Barbara Dobrzanska als Maria, äh, Amelia Grimaldi, und Rodrigo Porras Garulo als Gabriele Adorno

Mutig und heiß diskutiert wird unter anderem der Verrat an Boccanegra, der kurzerhand als das letzte Abendmahl in Szene gesetzt wird (s. Aufmacherbild). Der Fokus verengt sich schließlich auf „Judas“, während alle anderen Charaktere außer Simon wie eingefroren in einer Pose verharren. Intensiv und sehr eindringlich, wie ich finde, auch wenn mir die christliche Ikonografie teils an manch anderer Stelle etwas zu sehr strapaziert wird. Die Darstellung von Amelia Grimaldi als Maria hätte für mich zum Beispiel nicht sein müssen.

Verdis „Simon Boccanegra“ in Karlsruhe: musikalisch und gesanglich ein Genuss

Pressebild Simon Boccanegra (Falk von Traubenberg / Badisches Staatstheater)

Seung-Gi Jung macht als Simon Boccanegra einen sehr guten Job

Klanglich gibt’s indes kaum etwas zu meckern: Die Musik ist typisch für Verdi oft schmissig und immer hochemotional. Sie wird von Johannes Willig (Gesamtleitung) und Ulrich Wagner (Chor) konsequent leidenschaftlich und mit guter austarierter Dynamik interpretiert. Die Titelpartien sind gesanglich bestens besetzt: Allen voran machen Seung-Gi Jung als Simon Boccanegra, Ks. Barbara Dobrzanska als seine Tochter Amelia Grimaldi, das neue Ensemble-Mitglied Nicholas Brownlee als intriganter Fiesling Paolo Albiani (auch schauspielerisch top), Rodrigo Porras Garulo als Gabriele Adorno und Ks. Konstantin Gorny als Jacopo Fiesco eine gute (Stimm-)Figur.

Wermutstropfen: Altersgefüge der Figuren spiegelt sich nicht in der Besetzung

Was mich allerdings schon gestört hat, ist das Altersgefüge in der Besetzung (ohne hier jemandem zu nahe treten zu wollen). Sie spiegelt das Gefälle von mehreren Jahren bis Jahrzehnten unter den Figuren nicht wider.

Pressebild Simon Boccanegra (Falk von Traubenberg / Badisches Staatstheater)

Seung-Gi Jung als Simon, Ks. Barbara Dobrzanska als seine Tochter Amelia und Rodrigo Porras Garulo als ihr Verlobter Gabriele

Wenn beispielsweise Vater und Tochter gemeinsam auf der Bühne stehen, könnten sie auch locker ein Paar sein, denn optisch scheint man hier nicht allzu weit auseinander zu liegen (s. Bild oben). Da das genaue Alter bei Opernsängern und -Sängerinnen meist ein gut gehütetes Geheimnis ist, ist das natürlich nur mein subjektiver Eindruck. Vielleicht fehlt mir ja auch nur die entsprechende Abstraktionsfähigkeit oder/und gute Brille. 😉

Mehr als „nur“ schöne Melodien: Verdi-Oper für Herz und Hirn

Sei’s drum: Ich wurde bei der Premiere von „Simon Boccanegra“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe am 20.1.2018 sehr gut unterhalten und kann die Verdi-Oper für Herz und Hirn entsprechend weiterempfehlen. Die Fassung von David Herrmann (Regie) und Johannes Willig (Musik) eignet sich am besten für all jene, die sich im Musiktheater nicht nur von hübschen Melodien berieseln lassen wollen. Aber das habe ich ja damals auch schon zur sehr polarisierenden Fassung von „Macbeth“ gesagt.


Artikel: Elisa Reznicek, lebelieberlauter.de
Pressefotos: Falk von Traubenberg / Badisches Staatstheater Karlsruhe
Trailer: Badisches Staatstheater Karlsruhe