Komponistin Brigitta Muntendorf im Interview: „Ich bin lieber zwischen den Zeilen“

Die Komponistin Brigitta Muntendorf bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Social Composing, Zeit-/Netzkultur und interdisziplinärer Kunst. Im Interview spricht sie mit mir über den Wert künstlerischer Freiheit, das Ensemble Garage und den Wunsch alte Strukturen im Spielbetrieb aufzubrechen.

Elisa Reznicek: Eines der Themen, die sich wie ein roter Faden durch Ihre Arbeit ziehen, ist die Selbstinszenierung im digitalen Leben – eine Art „öffentliche Privatheit“, in der jeder ein Stück weit Selbstdarsteller ist.

Brigitta Muntendorf: Es ist weit mehr als dieser Themenkomplex. Die Frage ist, nach welchem Paradies wir heute streben und an welchen Werten wir uns orientieren. Eine unerschöpfliche Inspirationsquelle! Selbstinszenierung ist dabei nur eines der Phänomene. Ich selbst bin in sozialen Netzwerken nicht sonderlich aktiv, sondern beobachte eher die Mechanismen eines „sozialen Netzes“. Es ist sehr faszinierend mitzuverfolgen, wie jemand ein Image kreiert oder sich über soziale Netzwerke eine eigene Identität schafft. So leicht, wie wir die Klamotten wechseln, können wir heute unser Image wechseln. Interessant ist, dass das überhaupt funktioniert und warum wir beispielsweise digital immer schöner werden anstatt uns gegenseitig zu helfen.

Wie kommen Sie generell auf die Themen, mit denen Sie sich als Komponistin beschäftigen?

Grundsätzlich entstehen meine Ideen oft gar nicht aus der Musik heraus, sondern sind außermusikalisch. Der Ausgangspunkt ist beispielsweise, wie Digitalität unsere Wahrnehmung verändert und was unsere Orientierungspunkte in einer Gesellschaft sind. Die Frage, welche Bedürfnisse wir durch Digitalität entwickeln und welche künstlich geschaffen werden, finde ich sehr faszinierend, weil hier ein ständiges Wechselspiel zwischen dem Einzelnen, einer Gemeinschaft und der Ökonomie stattfindet. Deshalb merke ich, dass mich das Thema Digitalität und Mensch schon relativ lange begleitet. Angefangen, mich mit dem Themenkomplex zu beschäftigen, habe ich in der Reihe „Public Privacy“, in der es stark um das Öffentliche und Private ging. Ausgehend davon öffneten sich mit der Zeit immer mehr Themenfelder.


Im Netz gibt es den Begriff der Filterblase. Man bekommt das dargestellt und gespiegelt, was ohnehin im eigenen Interessen- und Beschäftigungsfeld liegt, während andere Themen ausgeblendet werden. Läuft man als Komponistin der zeitgenössischen Musik ebenfalls Gefahr, in einer Art selbstreferentiellen Filterblase innerhalb des Klassikbetriebs zu agieren?

Ich glaube, dass das Modell von Filterblasen eigentlich gar nichts Neues ist. Die Zugehörigkeit zu einem Sportverein oder der Umgang mit einem bestimmten Personenkreis ist auch eine gewisse Blase. Im Netz wird das durch die große Auswahl, die selektiv heruntergebrochen wird, nur deutlicher. Gleichzeitig vergrößert sich unser Rezeptionsraum fortlaufend. Man muss daher frei nach dem Sprichwort „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.“ selektieren – allerdings mit dem Bewusstsein dafür, dass man das tut. Natürlich sind auch die Klassik und die Neue Musik Blasen. Aber da ich mich selbst nicht als dem einen oder anderen völlig zugehörig fühle und man mich im Klassikkonzert wie Technoclubs antreffen kann, bleibe ich Suchende. Es ist reizvoll, sich immer wieder zu hinterfragen.

Sie sind sehr vielschichtig und interdisziplinär aufgestellt. Versuchen Sie bewusst Strukturen aufzubrechen?

Ja, ganz stark. Ich bin lieber zwischen den Zeilen, denn ich lasse mich nicht gern verorten. All diese klassischen Formen, die wir kennen, angefangen bei der Sonatenhauptsatzform bis hin zur Oper, hatten ihre Zeit. Es wäre merkwürdig heute noch starr daran festzuhalten und mit Modellen zu arbeiten, die aus einer völlig anderen Epoche stammen. Wir müssen in neuen Formen denken! Die Strukturen in traditionellen und etablierten Häusern sind aus der Geschichte heraus entstanden. Die Wandlung findet hier nur sehr langsam statt. Das ist eine große Herausforderung, mit der ich mich immer wieder konfrontiert sehe. Die Arbeit an Formaten, die beispielsweise aktuelle gesellschaftspolitische Themen aufgreifen, sieht heute schließlich ganz anders aus. Einerseits passiert schon sehr viel, nur steht dem auf der anderen Seite das Traditionsbewusstsein entgegen. Dieses hat zwar seine Berechtigung, trägt aber immer mehr einen musealen Charakter in sich. Veranstalter stellen früher oder später zwangsläufig Fragen wie „Ist das jetzt Musiktheater, Theater oder eine Performance? Und wer ist denn überhaupt die Zielgruppe?“ Auch das Publikum erwartet natürlich bekannte Termini und muss an das Neue erst einmal herangeführt werden. Ein sehr spannender Prozess!


Sie haben bei der Verleihung des Deutschen Musikautorenpreises auf den großen Stellenwert künstlerischer Freiheit als gesellschaftliche Errungenschaft hingewiesen. Was meinen Sie damit?

Es ist fast ein wenig schade von künstlerischer Freiheit als Errungenschaft sprechen zu müssen, denn idealerweise sollte sie etwas sein, was selbstverständlich ist. Doch weil künstlerische Freiheit eine gesellschaftliche Errungenschaft ist, trägt man die Verantwortung dafür zu sorgen, dass man diese Freiheit nutzt und wahrnimmt. In den Ländern, wo man sie nicht hat, wird aufgrund der starken Verknüpfung mit sozialen und politischen Themen eine ganze andere Kunst gemacht. Kunst ist dort eine Art Utopie, die genutzt wird, um einen Freiraum zu erobern. Kunst hat dann mit Widerstand zu tun und kann wahrer Zündstoff sein! Das ist hier in Deutschland und im größten Teil Europas natürlich nicht der Fall. Hier muss man mit künstlerischer Freiheit anders umgehen. Dieses „Wir können machen, was wir wollen!“ bedeutet aber nicht, dass es keine Dinge mehr gibt, an denen man weiterarbeiten müsste. Die Frage, was die eigentliche Aufgabe von Kunst ist, besteht ja weiterhin. Oft passiert es, dass Kunst instrumentalisiert wird – zum Beispiel, um politische Entwicklungen durchzusetzen. Gerade in der freien Szene müssen Projekte vermehrt Unmengen von sozialen Auflagen erfüllen. Das alles bringt natürlich Probleme mit sich, von denen man die Kunst wieder befreien muss. Es gilt, das Vertrauen in die Kunst und den Künstler aufzubauen.

Was verstehen Sie unter Social Composing und medialer Sinnlichkeit?

Es gibt viele Möglichkeiten Bewegtbilder, Klang und Instrumente im Sinne einer übergeordneten Musikalität einzusetzen. Sie sind dann mehr als die Summe ihrer Einzelteile, weil sie – in meinem Fa¬ll – durch Musik erfahrbar werden. Bei der Arbeit mit Elektronik, Video und Projektionen suche ich nach medialer Sinnlichkeit, in der sich alles bedingt und uns im besten Falle vergessen lässt, wie viel Technik auf der Bühne ist.

Social Composing bezieht sich auf die Frage, wie man mit sozialen Medien im Kompositionsprozess umgeht. Man kann von Facebook oder YouTube Material erhalten und außerhalb dieser Netzwerke ein eigenes Stück kreieren. Man kann aber genauso gut versuchen Modelle zu finden, wie sich ein Stück auf diesen Plattformen umsetzen lässt. Dabei stößt man in Bereiche vor, in denen es ums „soziale Komponieren“ geht. Ein gutes Beispiel ist Hatsune Miku. Das ist eine animierte Figur, für die jeder über die eingebettete Software Stücke schreiben kann. Sie werden von den Leuten, die sie hören oder zu Konzerten gehen, bewertet und entsprechend mehr oder weniger häufig gespielt. Insofern werden Komponenten, die in sozialen Medien verankert sind, in den Kompositionsprozess aufgenommen. Man schafft eine Art Community. Ein anderes Beispiel: Wenn ich ein Stück über Skype mache, indem ich nur Skype-Sounds einbaue, hat das nichts mit Social Composing zu tun. Es geht dabei um die Situation an sich und das essenzielle Wesen dieser Art von Kommunikation: Wo befinden sich die beiden Menschen, die skypen? Was macht das mit ihnen, dass sie sich nicht persönlich sehen? Und so weiter.

Wie sind Sie zum Komponieren gekommen? Hat sich das Interesse dafür schon als Jugendliche herauskristallisiert?

Ehrlich gesagt war das ziemlich schräg. [lacht] Ich habe beim Klavierspielen gemerkt, dass mich gar nicht mal so sehr die Perfektion in der Interpretation interessiert. Ich wollte wissen, wie die Stücke gemacht sind. Irgendwann gab es dann in einer Kirchengemeinde in der Nähe ein experimentelles Musical. Da habe ich einfach gefragt, ob ich mitschreiben kann. Der Kantor hat mir viel beigebracht. Aber natürlich habe ich damals noch total tonal gearbeitet und mich sehr weit weg von Neuer Musik bewegt. Die kannte ich nicht einmal. In der Schulzeit bin ich mit meiner Freundin zu Ligetis ‚Aventures‘ gegangen. Wir wurden rausgeschmissen, weil wir einen Lachkrampf hatten. Damals habe ich diese Art von Musik wirklich nicht verstanden! [lacht] Das hat sich erst während der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung gebessert – dabei habe ich gelernt, wie man diese Musik überhaupt hört. Zunächst habe ich aber ein Medizinstudium begonnen, weil ich gar nicht so recht wusste, was das denn nun heißt, Komposition zu studieren. Ich habe aber die Leidenschaft dafür gespürt. Der Weg war entsprechend lang und holprig. Als ich bei Younghi Pagh-Paan an der HfK Bremen angenommen wurde, hat es bei mir Klick gemacht, was Neue Musik betrifft! Die mediale Auseinandersetzung kam gegen Ende des Studiums, das mich auch nach Köln führte, dazu.

Sie haben während Ihres Studium 2009 das zehnköpfige, internationale Ensemble Garage gegründet, um neue Ideen, Werke und Konzepte umzusetzen. Welchen Stellenwert hat die gemeinschaftliche Arbeit für Sie?

Ich wollte mich gern unabhängig von Institutionen und Auftraggebern machen und die Stücke lieber mit meiner eigenen Crew aufführen. Es ging außerdem darum sich auszuprobieren, eigene Programme zu entwickeln und noch mehr Möglichkeiten zu haben, als sie beispielsweise von der Hochschule zur Verfügung gestellt werden konnten. Bis heute ist das Ensemble für mich sehr wichtig – gerade, wenn es darum geht, Dinge neu zu definieren und zu interpretieren. Eine derart große Gruppe bringt schließlich die entsprechende Power und Infrastruktur mit, um Projekte und Konzerte kreativ zu realisieren. Und sie erleichtert allen Beteiligten das Vernetzen mit Menschen und Musik, die einen interessieren. Beim Ensemble Garage habe ich eine Doppelfunktion inne: Ich mache einerseits die künstlerische Leitung und entwickele Programme zusammen mit den Musikern. Da können meine Stücke dabei sein, müssen sie aber nicht. Andererseits schreibe ich natürlich auch speziell für das Ensemble. Mit dem Dirigenten Mariano Chiacchiarini bin ich beispielsweise schon seit dem Studium verbunden. Es gibt ein tiefes Vertrauensverhältnis, was das Experimentieren erleichtert. Das Ensemble Garage ist insofern eine Konstante. Daneben arbeite ich aber natürlich ebenfalls mit anderen Ensembles.

Termintipp: Im Rahmen des BASF Kulturprogramms (11.10-15.10.2017) wird ein Querschnitt ihrer Arbeiten in Ludwigshafen präsentiert – von der Social-Media-Opera „iScreen, youScream!“, die Anfang 2017 in Stuttgart uraufgeführt wurde, über das Orchesterstück CRACK (2009) bis hin zur Uraufführung eines zweiten Satzes von „Key of presence“ für zwei Klaviere und Live-Elektronik.

Weiterführende Infos zu Komponistin Brigitta Muntendorf gibt es auf ihrer Webseite.


Interview: Elisa Reznicek, lebelieberlauter.de 2017
Fotos wurden freundlicherweise von der Komponistin zur redaktionellen Berichterstattung zur Verfügung gestellt